Die Adoleszenz ist eine schwierige Phase. Sie hat viel damit zu tun, sich als Individuum in verschiedenen Rollen auszuprobieren. Gewissermaßen Masken aufzusetzen, um sich von der eigenen, bislang fremdbestimmten, Biographie zu emanzipieren, sich als jemand neu zu erfinden oder aber die eigenen Unzulänglichkeiten anzuerkennen und produktiv auszunutzen . Letztlich ein natürlicher Prozess, der manchmal aber das ganze Leben bestimmt. Auch Sexualität und die erste Liebe sind Teil dieses Prozesses – Der auf der gleichnamige Shojo-Mangareihe von Masami Tsuda beruhende Anime „Kare Kano“ heißt in seiner Vollständigkeit Kareshi Kanojo no Jijō, was frei übersetzt „Seine und ihre Umstände“ bedeutet. Und dem Titel gemäß geht es sowohl in der Manga-Vorlage als auch in der Anime-Adaption dann neben den romantischen Handlungselementen auch vordergründig um die sozioökonomischen „Umstände“ der Protagonist*Innen. Genau das macht auch den Reiz von Kare Kano aus. Masami Tsuda war letztlich mit der von GAINAX, unter der Federführung von Hideaki Anno, produzierten Serie aus dem Jahre 1998 nicht zufrieden, da ein zu großer Fokus auf die komödiantischen Elemente gelegt worden sei. Warum die deshalb nur 26-teilige Serie dennoch empfehlenswert ist, erfahrt ihr in dieser Review.
Veröffentlicht wurde die Gesamtausgabe im Übrigen am 30. März 2018 via Nipponart. An dieser Stelle gibt es also wieder ein dickes Dankeschön an den Publisher für die Bereitstellung des Rezensionsexemplares.
MASKEN, MASKEN
Yukino Miyazawa ist scheinbar perfekt. Sie ist hübsch, sportlich und eine außergewöhnlich leistungsstarke Schülerin, die sich derweil auch noch sozial engagiert. Von ihren Klassenkameradinnen wird sie bewundert, von den männlichen Schülern geliebt. Miyazawa genießt es sichtlich, im Rampenlicht zu stehen und investiert viel Zeit in ihr Image. Was hingegen niemand weiß: Das alles ist bloß eine mühsam aufrechterhaltene Fassade. Zuhause, bei ihrer klassischen Mittelschichtsfamilie, bestehend aus ihren beiden jüngeren Geschwistern und ihren Eltern, kann sie hingegen ihr wahres Ich ausleben. Und das ist vor allem impulsiv, schlampig und ziemlich ich-bezogen. Ernsthafte Konkurrenz bekommt sie, als der gutaussehende Soichiro Arima in ihre Klasse kommt und ihr den Rang abläuft. Auch er ist sowohl akademisch als auch in athletischer Hinsicht exzellent. Darüber hinaus kommt er aus einer wohlhabenden und prestigereichen Familie. Das, wofür Yukino erbittert kämpft, scheint ihm mühelos von der Hand zu gehen. Doch sie denkt nicht daran, ihm das Feld zu überlassen und startet einen erbitterten Konkurrenzkampf. Was auch sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnt: Arima ist nicht der sorgenlose Junge, für den sie ihn hält. Er hat eine dunkle und schmerzhafte Kindheit erlebt und möchte (aus persönlichen Gründen) seiner Ziehfamilie beweisen, dass er nicht das Stigma des Makels an sich trägt. Als die beiden von der Schule die Anweisung bekommen, als Schulsprecher und Vize zusammenarbeiten, kommen sie sich schließlich näher und entdecken Gefühle füreinander, müssen aber aufgrund ihrer unterschiedlichen Biografien verschiedene Hindernisse meistern.
Ich habe eine Schwäche für japanische ROM COMS – komme aber nicht umhin zu bemerken, dass die meisten doch recht schwülstig ausfallen und ein eher submisses Verständnis vom weiblichen Geschlecht mitbringen. Hier empfinde ich Kare Kano als bemerkenswert vielschichtig. Denn abseits der eher witzigen Slapstick-Momente und den melodramatischen Passagen, wagen sich sowohl der Manga- als auch die Anime Serie recht tief in die durchaus komplexe Gefühlswelt der Protagonist*Innen hinein, die in Form von inneren Monologen vermittelt wird. Gerade im Shojo-Genre gibt es ja das ziemlich rückwärtsgewandte Bild des empathisch-sensiblen Mädchens, das sich liebevollen für ihren Partner (in spe) aufopfert. Ein Konzept, welches auch unter dem Begriff „yasashii“ bekannt ist. Nun konterkarierte Masami Tsudo diese Art von Darstellung der Yukino, indem sie die als Genre-Trademarks gegebenen Charakterzüge eben als reine Fassade demaskiert, die nur aufrechterhalten werden, um der gesellschaftlichen Erwartungshaltung zu entsprechen. Tatsächlich ist Yukino vorlaut, gefräßig und läuft zuhause nur im gemütlichen Jogginganzug rum, hört seichte Popmusik und liest eher Hochglanz-Magazine als verkopfte Hochliteratur. In der Schule hingegen zeigt sie sich interessiert an klassischer Musik und den Evergreens der Literaturgeschichte. Kurzum: Sie ist eine Hochstaplerin und ist sich dessen voll bewusst. Auch Arima ist durchaus besitzergreifend, neidisch und von Minderwertigkeitskomplexen geplagt. Kurz gefasst: Die Charaktere sind nicht einfach nur Schablonen, sondern zutiefst menschliche Unsympathen – mit all ihren Macken und Spleens. AnimaniA urteilte seinerzeit, dass Kare Kano einer der „überzeugendsten Shojo-Mangas seiner Zeit“ gewesen ist. Tatsächlich lässt sich das auch ohne weiteres von der Anime-Adaption sagen – Wo ein „School Rumble“ durchgehend sehr goofy, chaotisch und infantil wirkt, hat „Kare Kano“ ein wirklich ausgewogenes Pacing – Manchmal nimmt es sich tempomäßig sehr zurück, um dann im passenden Moment entsprechend zu beschleunigen. Tsuda kritisierte damals, dass die Anime-Adaption dem Humor zu viel Raum überlässt. Ich finde aber, dass die Darstellung menschlicher Abgründe und der eher schwermütige Subtext hier mit humorvollen Momenten wunderbar aufgelockert werden. Generell schafft es Regisseur Hideaki Anno mit den Folgen 1-18 ein relativ rundes Erlebnis abzuliefern, in dem gerade auch die Dialoge sehr natürlich und nachvollziehbar geschrieben sind, ohne in allzu triefenden Pathos abzugleiten. Auch die Nebencharaktere haben alle ihre Päckchen zu tragen, die mal mehr, mal weniger Impact auf die Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren haben. Grundsätzlich liefert Kare Kano ein relativ realistisches und geerdetes Abbild des japanischen Schulalltags und des japanischen Leistungsprinzip während der 1990er Jahre und schöpft daraus auch vornehmlich seine Reize und macht Kare Kano zu einer Maßstab setzenden High School Rom Com.
Regietechnisch merkt man Hideaki Annos‘ Handschrift an allen Ecken – Er hatte zuvor an seinem Magnum Opus Neon Genesis Evangelion gearbeitet und auch Kare Kano arbeitet, gerade für Shojo-Verhältnisse, mit vergleichsweise experimentellen Techniken. Statische Einstellungen mit starkem symbolischem Gehalt, Texteinblendungen, monologische Sequenzen und Realfilm-Einblendungen – Das chaotische Gefühlleben der Protagonisten wird mittels dieser Techniken sehr greifbar veranschaulicht.
Leider gibt es aber auch erhebliche Defizite, die vor allem aus den Zerwürfnissen mit der Mangaka resultieren: So verließ Hideako Anno nach der Kritik durch Masami Tsuda langfristig die Produktion und überließ die Fertigstellung der restlichen 8 Episoden schließlich Kazuya Tsurumaki (u.a. FLCL und die neueren Neon Genesis Evangelion-Filme). Nicht nur verändert sich dadurch der Tonfall der Serie durchaus merklich, sondern auch ganze Handlungsstränge kommen zu keinem vernünftigen Abschluss, weder der Main Plot bekommt ein zufriedenstellendes Ende, noch werden offene Side-Plots geschlossen. Da es aufgrund der künstlerischen Differenzen mit Tsuda auch niemals zu einer zweiten Staffel gekommen ist, endet Kare Kano auf eine merkwürdig unbefriedigende Weise.
BILD UND ANIMATION
Ich mag den old schooligen, handgemachten Stil von GAINAX ziemlich gerne und finde den pastelligen Look der Serie charmant genug, als dass er über die visuellen Alters Wehwehchen wie Interlacingprobleme, leichte Artefakt Bildungen und eher niedrige Kontrastwerte hinwegzuhelfen vermag. Die Gesamtausgabe von Kare Kano wurde für die Neuauflage von Nipponart nicht großartig restauriert. Die DVD-Ausgabe (eine Blu-Ray Fassung gibt es nicht) kommt lediglich in einer SD-Auflösung von 720×576 Pixeln und im klassischen 4:3 Bildformat daher. Dennoch ist Kare Kano visuell ein Genuss: Nicht nur wurden die etwas aus dem Ruder gelaufenen Charakterdesigns von Masami Tsuda von Tadashi Hiramatsu merklich aufgefrischt, auch hat man sich künstlerisch für Rom Com-Verhältnisse relativ weit aus dem Fenster gelehnt: Die Bildsprache ist poetisch – Lange, statische Einstellungen versinnbildlichen die Konflikte der Charaktere, teilweise aus ungewöhnlichen Blickwinkeln. Die Animationstechniken wurden partiell von Neon Genesis Evangelion übernommen und verfeinert. Hideaki Anno hat im klassischen Cel Animationsverfahren gearbeitet, aber darüber hinaus auch reale Bilder als Hintergründe verwendet, schnelle Texteinblendungen á la Godard eingefügt und collagenartig Bilder aus dem Manga abgefilmt. Auch die Slapstick-artigen hum
oristischen Sequenzen im chibiesken Super Deformed-Style waren anno 1998 noch eine recht innovative Geschichte, ebenso wie die isolierten monologischen Sequenzen. Ob man sich mit der Bildsprache anfreunden kann, ist letztlich zwar eine Frage des Geschmacks, man kommt aber nicht umhin zu bemerken, dass Kare Kano hier für Genre-Verhältnisse sehr eigene Wege gegangen ist.
Kritisch betrachten könnte man eventuell das häufige Wiederverwenden von Assets und Einstellungen, die nicht immer ganz zielgerichtet wirken und vermutlich gerade in der letzten Hälfte auch budgetbedingt in dieser Form eingesetzt werden.
TON UND SYNCHRONISATION
Die Gesamtausgabe wartet mit Japanischer und Deutscher Sprachausgabe im Dolby Digital 2.0-Format auf. Der Ton ist gut abgemischt und die Charaktere sind gut zu verstehen. Auf direktionale Geschichten muss man allerdings vollständig verzichten. Es finden alles eher in den Höhen statt, auch in den etwas ereignisreicheren Sequenzen wummert der Bass nahezu unbemerkt. Der Score aus der Feder von Shiro Sagisu (Neon Genesis Evangelion) ist auch hier abermals recht melancholisch geraten, wird häufig von zartfühligen Klavierklängen dominiert, mit zeitweiliger Unterstützung von Streichern. Das Opening „Tenshi No Yubikiri“ von Fukuda Mai unterstreicht den Tenor der Serie trefflich – Relativ eingängig vom Arrangement her, fühlt sich das Stück zugleich zerbrechlich, als auch kraftvoll an. Das Ending Theme mutet recht locker-flockig und unschuldig an, kann dem abgründigen Element aber nicht wirklich Rechnung tragen. Dafür kann man beim Ending auch wieder ein relativ experimentelles visuelles Feature beobachten: Zum Ending gibt es nämlich stetig unterschiedliche (reale) Echtbildkamerafahrten durch japanische High Schools und Schüler*Innen kündigen manches Mal den Inhalt der nächsten Folge an.
Für die Synchronleistungen sind die Kuraoka Entertainment GmbH in Kooperation mit den Berlin & Bikini Studios verantwortlich. Als Dialogregisseur fungierte Mario von Jascheroff – Für die Hauptfiguren wurden durchaus prominente Sprecher*Innen eingesetzt – So spricht Rubina Nath, die unter anderem für ihre Rolle als Astro Boy bekannt ist, Yukino Miyazawa, während Constantin von Jascheroff Arima seine Stimme leiht. Auch die Nebenfiguren wurden allesamt mit qualifizierten Sprecher*Innen versehen. Gerade die Dynamik zwischen Slapstick lastigen, überzeichneten Gefühlsausbrüchen und den eher bedächtigen Momenten funktioniert bemerkenswert gut und setzt hohes Können voraus. Insofern gibt es hier nichts zu beanstanden.
Die Lokalisierung funktioniert relativ durchgehend. Die Untertitelung ist mit ihrer weißen Schrift und auch vom Tempo her weitgehend gut mitlesbar. Auch Schriftzeichen an verschiedenen Stellen werden mit untertitelt, sind aber grau hinterlegt, verwaschen und eher schlecht zu entziffern. Hier kann man sich schon fragen, warum man sich gerade für diese Darstellungsweise entschieden hatte.
Zur japanischen Sprachausgabe kann ich nicht viel erzählen, weil ich die Serie größtenteils im deutschsprachigen Format angeschaut habe. Die Stimmen sind auch hier relativ passend gesetzt, wenngleich ich die deutschen Stimmen als durchaus hochwertiger einstufen würde, und die Abmischung ist auch in der jap. Ausgabe grundsolide.
PHYSISCHE UMSETZUNG
Die Umsetzung der Gesamtausgabe von Nipponart ist ein echter Augenfänger. Das dicke 5-DVD starke Digipack wird von einem extrem festen Pappschuber zusammengehalten. Die einzelnen aufklappbaren Seiten enthalten alle wichtigen Haupt- und Nebencharaktere mit Namen in durchaus hübschen Artworks. Ansonsten liegen der Ausgabe wie üblich ein postkartengroßer Sticker sowie ein Poster mit Miyazawa und Arima bei.
Tatsächlich gibt es dieses Mal auch digitale Boni – So kann man sich vollständig untertitelte Interviews mit drei Synchronsprecher*Innen anschauen, und es gibt ein durchaus interessantes „Behind the Scenes“-Video zur deutschen Vertonung der Serie.
Fazit:
Kare Kano ist eine bemerkenswert unschwülstige High School-Rom Com, die sehr viel Wert auf eine durchaus komplexe Charakterzeichnung ihrer Figuren legt und in der Hinsicht Maßstäbe im Genre gesetzt hat. Es ist nicht immer alles happy in Kare Kano, stattdessen bietet der Anime auch relativ abgründige Kost. Dennoch will das nicht heißen, dass Kare Kano sich bierernst nimmt, stattdessen wird eine sehr ausgewogene Balance zwischen Humor und Drama gehalten. Auch audiovisuell zeigt Kare Kano für Shojo-Verhältnisse relativ experimentelle Ansätze und Mut zur Kante. Geschmälert wird der Eindruck allerhöchstens durch die produktionsbedingte Unvollständigkeit der Handlung. Die 26 Folgen der Animeserie decken ca. 8 Bände der gleichnamigen Manga Reihe ab und enden auf eine relativ unbefriedigende Art und Weise. Dennoch, nicht zuletzt auch durch die liebevolle Aufmachung der nipponart-Ausgabe, spreche ich eine Empfehlung für jene aus, die auf angenehm plastische und geerdete Romanzen stehen.
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ALLGEMEINE DATEN
Veröffentlichung: 30. März 2018
Publisher: Nipponart
Genre: Coming-of-Age, Romantik, Drama, Shojo
Laufzeit: ca. 650 min
FSK: 6
Bild: 720×576 px, 4:3
Ton/Sprache: Deutsch/Japanisch Dolby Digital 2.0
Untertitel: Deutsch
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Kare Kano Gesamtausgabe auf DVD
Handlung:
Auf Yukino Miyazawa lastet ein enormer Erfolgsdruck. Bislang hatte sie ein perfektes Image und war durch harte Arbeit immer die Klassenbeste und bei jedem beliebt. Im neuen Schuljahr sollte sich dies aber ändern. Sie bekommt plötzlich Konkurrenz von Soichiro Arima, einem Jungen aus gutem Hause. Yukino kann ihn vom ersten Augenblick an nicht ausstehen, da er sie in allen Bereichen mit Leichtigkeit übertrumpft. Um sich ihre Position zurückzuerobern, sinnt sie nach Rache. Doch aus Rache wird schnell Liebe… Die 26-teilige Anime-Serie „Kare Kano“ aus dem Hause Gainax (Neon Genesis Evangelion) basiert auf der gleichnamigen Mangavorlage aus der Feder von Masamit Tsuda. Regie führte niemand geringeres als der Großmeister des Anime, Hideaki Anno (Neon Genesis Evangelion, Nadia – Die Macht des Zaubersteins). Nipponart präsentiert alle Episoden in einer Komplettbox.
Quelle: Nipponart, Amazon.de
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