Nostalgische Gemüter werden die 1990er Jahre vermutlich als das goldene Jahrzehnt des Japano-Rollenspiels verklären. Gerade zum Ende der SNES-Ära hin erschienen einige regelrechte JRPG-Bretter und SONYs mausgraue 32 Bit-Kiste beerbte schließlich Nintendos traditionelle Rolle als Heimathafen für Rollenspiele japanischer Prägung. Chrono Trigger, die Soul Blazer-Reihe, Final Fantasy – Ein illustrer Reigen, der eines gemeinsam hatte: All diese Titel wurden von Square oder Enix entwickelt und/oder auch veröffentlicht. Zurück ins 21. Jahrhundert: Die einstigen Konkurrenten werkeln seit der Fusion im Jahre 2003 bekanntlich als Square Enix unter einem gemeinsamen Dach. Nun erschien vorletztes Jahr genau dort mit „I am Setsuna“ eine reinrassige Hommage an diese Klassiker der guten, alten Zeit – mitsamt allen anachronistischen Trademarks, die das Genre in den 90ern geprägt hat (wobei ein zentraler Kritikpunkt vieler SpielerInnen war, dass die genretypischen „Inns“ gefehlt haben, das am Rande). Entwicklerstudio Tokyo RPG Factory liefert nun mit dem jüngst erschienenen „Lost Sphear“ eine nahtlose Weiterführung dieses Konzepts und eine geistige „I am Setsuna“-Fortsetzung. Ob „Lost Sphear“ ebenfalls den charmanten Zeitgeist der 90er gut einzufangen vermag und ob eine qualitative Steigerung gegenüber dem bisweilen etwas träge und monoton geratenen „I am Setsuna“ gelungen ist, das erfahrt ihr hier.
VERLORENE WELT
Die inhaltliche Ausgangslage und Lore von Lost Sphear ist interessant: Die Welt ist erbaut auf den Erinnerungen und somit auch den Gefühlen ihrer Bewohner. Erinnerungen an Flora und Fauna, an alte Traditionen, an die Vorfahren, an die Heimat. Erinnerungen sind es, die hier das Sein konstituieren. Die marodierenden Monster sind hier bloß eine Manifestation emotional negativ aufgeladener, fragmentierter Erinnerungen. Was aber tun, wenn die Erinnerungen dieser Welt zu schwinden drohen? Mit dieser Frage wird unsere Heldengruppe in Lost Sphear direkt zu Beginn konfrontiert, als unser Hauptprotagonist Kanata sich mit Gefährtin Lumina auf die Suche nach dem fehlenden Mitglied der Clique, dem etwas trotteligen Locke, macht. Dieser ist nämlich mal wieder verschwunden. Doch das Auftauchen seltsamer Monster und ein noch merkwürdigeres Phänomen, nämlich das Verschwinden des ganzen Dorfes hinter einem dichten Nebelschleier zwingt unsere Helden wider Willen diesem Geheimnis auf die Spur zu gehen. Fortan verschwinden überall in der Welt ganze Metropolen, Landschaftsstriche und Ozeane. Doch um das klassische Helden-Narrativ des Genres zu bedienen, ist es gerade Kanata, der mit einer besonderen Gabe ausgestattet ist, kann er doch Erinnerungen und Gefühle aus Objekten, Widersachern und seinen Mitmenschen extrahieren, um verlorengeglaubte Dinge wiederherzustellen.
Klar, dass das machthabende Imperium bei solchen Fähigkeiten auf ihn aufmerksam wird, in dessen Dienst er fortan agieren soll. Dass das undurchschaubare Regime dabei interessenmäßig aber ein eigenes Süppchen kocht, dürfte beinahe klar sein. Das Ausmaß des finsteren Vorgehens entfaltet sich behutsam im Laufe der Handlung und stellt Kanatas moralische Integrität zeitweise auf die Probe.
Die Story ist dabei per se gar nicht so schlecht, zeitweise sogar durchaus spannend, leider aber in der Umsetzung einen Tacken zu dröge und vorhersehbar. Auch sind viele Nebenhandlungsstränge eher Füllwerk, um die Spielzeit zu strecken. Die zu erschaffenden Erinnerungen, die aus den Gefühlen der NPCs bestehen, und die es gilt aus den Gesprächen herauszufiltern, sind dabei durchaus versiert geschrieben und eröffnen Potential für vielschichtige Themen. Bloß sind die Textboxen mit ihren maximal dreizeiligen Textfeldern nicht das geeignete Mittel, um ausufernd komplexe Stories zu erzählen, was in diesem Falle tatsächlich schade ist. War die Kürze der Textboxen zu SNES-Zeiten der niedrigen Auflösung und den technischen Limitationen der Spielmodule geschuldet, gibt es hier, außer eben um Authentizität vorzugaukeln, nahezu keinen Grund, die Erzählung derart kompakt zu halten. Die Charaktere sind alle relativ liebenswert und knuffig, bleiben aber relativ eindimensional – Da haben wir etwa den selbstlos-mutigen, aber etwas einfältigen Kanata, seine loyale weibliche Begleitung Lumina, den trotteligen Querkopf mit Herz Locke, den mysteriös-undurchschaubaren Van, den weisen Obaro, die gerechte Dissidentin Galdra und allerlei weitere Archetypen des Genres. Das ist schade, denn ein bisschen mehr Ambivalenz, bisschen weniger Schwarz-Weiß würde der Protagonisten-Riege gut zu Gesicht stehen. Das haben nämlich schon die Square-Titel der 90er durchaus besser hinbekommen.
VERSCHENKTES POTENTIAL
Dasselbe verschenkte Potential zieht sich auch bis zur Spielmechanik durch. Denn im Kern ist Lost Sphear zwar ein grundsolides Spiel, das gut verdauliche Genre-Hausmannskost bietet, wirkt aber in seiner Beliebigkeit zu uninspiriert. Es wirkt, salopp formuliert, wie ein Mash-Up aus allen möglichen Elementen, welche die Entwickler irgendwann mal cool fanden und die dann deshalb Einzug in Lost Sphear erhalten haben. Es fängt beim Einsammeln der Erinnerungen an – Hier hätte man durchaus einen Bogen zur Erzählweise schlagen können und das Ganze mit interessanten Rätselmechaniken aufwerten können, die in den Main Plot integriert werden. Stattdessen sammelt man die Erinnerungen aber im Vorbeigehen als plumpe „Collectibles“ ein. An bestimmten Stellen lassen sich Teile der Region wieder mithilfe sogenannter Artefakte wiederherstellen – Dazu bedarf es unterschiedlicher „Erinnerungszutaten“, aus denen man das Artefakt rekonstruieren kann. Diese Artefakte setzen diverse Boni frei – Das können etwa diverse Buff- und Debuff-Effekte sein, also zusätzlicher Schaden gegenüber einem bestimmten Gegnertypen sein, erhöhte Resistenzwerte oder auch einfach nur das zügigere Voranschreiten auf der Weltkarte sein. Auch hier hätte man sich aber ein stärkeres Ineinandergreifen von Synergien oder fordernderes Micro Management wünschen können. Die Liste setzt sich fort: Man kann Zutaten sammeln, die dann von Köchen in den Inns (die es jetzt tatsächlich gibt) zu Mahlzeiten zubereitet werden. Aber auch hier sind die Effekte maximal ein netter Bonus, der aber nur bedingt notwendig ist. Die Zutaten selbst hingegen respawnen permanent, sodass das Inventar eigentlich immer mit einer schier endlosen Zahl an Zutaten gefüllt ist. Auch das Fischen geht automatisiert vonstatten und hat keinerlei Nutzen für den Handlungsverlauf. Insofern funktionieren die ganzen Mechanismen- und Minigames zu autonom voneinander und haben gar keinen Bezug zum Plot oder zueinander. Hier gibt’s also extrem viel Luft nach oben.
Die Weltkarte in Lost Sphear ist nur Mittel zum Zweck, um von A nach B zu kommen. Das passiert zu Fuß, via Schiff zur See und via Winger auf dem Luftwege. Optisch eher zweckmäßig als schön, gibt es hier auch nicht, wie häufig üblich, Zufallskämpfe zu bestreiten. Deswegen managt man über die Hub-Welt lediglich die Ressourcen, indem man verlorene Regionen sowie die Säulen wiederherstellt und Items einsammelt. Auch hier wäre sicherlich mehr drin gewesen, allerdings möchte ich das dem Spiel nur bedingt ankreiden, weil ich persönlich inflationäre Zufallskämpfe in heutigen Zeiten eher abtörnend finde.
Die Kulissen in Lost Sphear schwanken optisch zwischen durchaus hübsch bis furchtbar generisch und langweilig – Gerade mit seinem verträumten Charakter stünde Lost Sphear aber ein eigenständigeres Artdesign mit mehr Mut zur Farbe ganz gut zu Gesicht. Stattdessen sind viele der Dungeons, obwohl schön designt, in einheitlich bräunlichen und grauen Farbtönen gehalten. Generell hätte ich mir mehr Interaktionsmöglichkeiten mit der oftmals zu leblosen Welt gewünscht, stattdessen gibt es bis auf die Möglichkeit ein paar Felsbrocken mit den Vulcosuits zu zertrümmern, um zu versteckten Schatztruhen zu gelangen, keinerlei Möglichkeiten irgendwie explorativer vorzugehen. Gerade auch, weil im Spiel viel Backtracking betrieben wird, das heißt das mehrfache Abstottern der jeweils selben Areale, sollten die Schauplätze einen gewissen Mehrwert haben, damit es auch beim zweiten und dritten Besuch noch irgendwo ein „Aha“-Erlebnis gibt.
VERBESSERTES KAMPFSYSTEM
Apropos Vulcosuits, ab einem gewissen Punkt im Spiel kann man diese schnieken Mechanzüge sowohl im Kampf als auch beim Durchstreifen der Ländereien nutzen. Diese Exorüstungen machen unsere Helden robuster, und statten sie mit sogenannten „Paradigmen“ aus, am ehesten kann man das Ganze als Elementarprofile mit einem entsprechend angepassten Skillset beschreiben, die über die Elementarsäulen freigeschaltet werden. Auch lassen sich im Kampf auf diese Weise Ko-Op Angriffe ausführen, die besonders verheerend sind. Allerdings sind die Vulcosuits natürlich nur limitiert einsetzbar, und an eine sogenannte VP-Leiste gebunden. Ist die verbraucht, sollte man den Anzug im Kampf natürlich wieder ablegen. In Dungeons lassen sich territoriale Effekte nutzen wie „Verstärken“, auch das kostet natürlich VP, um sich schneller fortzubewegen und Kämpfe zu umgehen.
Und wenn wir schon beim Thema Kampf sind: Was Lost Sphear gegenüber I am Setsuna deutlich verbessert hat, sind tatsächlich die Kampfsequenzen. Das Fundament bleibt zunächst dasselbe: Wie auch bei I am Setsuna gibt es in Lost Sphear keine Zufallskämpfe zu bestreiten. Sobald ihr euch euren Widersachern nähert und in Kampfreichweite zu ihnen befindet wechselt auch Lost Sphear in den Gefechtsmodus – wahlweise in einer „Bedrohungssituation“, einer „Präventivsituation“ oder einer „Zangensituation“, die sich unterschiedlich auf eure Werte auswirkt. Auch hier ist das klassische ATB-System (Active Time Battle) präsent – Sowohl eure Party wie auch Gegnerriege sind jeweils mit einer ATB-Leiste ausgestattet, die sich abhängig von diversen Sondereffekten unterschiedlich schnell füllt. Ist die Leiste voll, dürfen eure Helden eine Aktion ausführen, sei es einfacher ausgeführter Angriff, das Nutzen eines Items, die Nutzung einer Spezialattacke („Skill“) oder das Umschalten zur Vulcosuit-Rüstung. Auch die SP-Punkte und die Momentum-Angriffe des Quasi-Vorgängers wurden beibehalten. Für jeden geglückten Angriff und für jedes Einstecken von Schaden erhält man SP-Punkte, die ebenfalls eine dreistufige Leiste füllen. Timt man den Folge-Angriff richtig, richtet man erhöhten Schaden an, der unter Umständen in einem sogenannten Setsuna-Kill mündet.
Die zentrale Neuerung, die den Ablauf sehr viel runder macht, ist der Umstand, dass jedes Partymitglied sich frei auf dem Feld bewegen kann. Abhängig von der Position richtet ihr mehr oder weniger Schaden an, steckt weniger Treffer ein oder könnt auch mehrere Widersacher auf einmal mitnehmen. Wenngleich das System natürlich immer noch nicht sonderlich komplex ist, so erlaubt es dennoch kleinere taktische Spielereien.
Sowohl eure Ausrüstung lässt sich außerdem mit sogenannten Spiritnits verbessern (bis zu fünf Spiritnits lassen sich an einem Gegenstand befestigen), sowie anpassbare Fähigkeiten, die mit Sekundäreffekten gekoppelt werden können. Das System fühlt sich ähnlich an wie das Materia-System bei FF7, ist dabei aber deutlich weniger komplex – Sublimierungseffekte etwa verstärken die Spiritnit-Eigenschaften. Zwar verleiht das System Lost Sphear durchaus spielmechanische Tiefe, leider bleibt es aber zu häufig ungenutzt, weil die Standard-Gegner, die uns im Verlaufe der Handlung über den Weg laufen, schlicht „Kanonen-Futter“-Charakter haben und keinerlei Taktieren erfordern (zumindest auf dem Schwierigkeitsgrad „Normal“).
Die Zwischenboss- und Boss Gegner hingegen agieren teils schlicht unfair, weil sie Angriffe mit großen Radien starten oder häufig auf sogenannte „Sofort-Töten“ Angriffe setzen, die folgerichtig eines unserer Partymitglieder sofort ins Nirvana schicken. Hier zieht der Schwierigkeitsgrad dann immer auf unnatürliche Weise an, wenngleich man auch hier nicht von allzu frustrierenden Momenten ausgehen muss. Dafür ist die „Quicksave“-Option, die neben den regulären Save Points existiert, zu bequem.
MÄßiGE PC-UMSETZUNG
Ich habe Lost Sphear als Steam-Fassung für den PC getestet und möchte an dieser Stelle ein Wort zur Umsetzung verlieren. Die ist nämlich eher mäßig gelungen – Die Einstellungen zu Beginn etwa bieten nur marginalste Individualisierungsoptionen: Außer der Wahl zwischen Vollbild- und Fenstermodus, zwischen vier Auflösungsoptionen sowie der Wahl zwischen Gamepad- und Tastatursteuerung gibt es keinerlei weitere Möglichkeiten, das Spiel anzupassen. Es gibt keine individuellen Tastaturbelegungen, kein grafischen oder auditiven Anpassungsmöglichkeiten. Auch gibt es keine Maus-Unterstützung, was gerade in den Kämpfen durchaus eine Bereicherung gewesen wäre.
Die Performance ist auch durchwachsen: Einerseits läuft Lost Sphear auf meiner alten Krücke von einem Notebook ganz solide, andererseits kommt es auch auf potenter Hardware zu Rucklern und Framerateeinbrüchen. Gerade angesichts der nicht allzu herausragenden Grafik – das Spiel wäre vermutlich mit ein bisschen Optimierung auch auf einem (New) 3DS-System lauffähig – dürfte sowas eigentlich nicht sein.
TOLLER SOUNDTRACK
Der Soundtrack von Lost Sphear hat mir hingegen sehr gefallen, weil er kompositorisch durchaus mit den alten Klassikern mithalten kann, aber dennoch eher subtil und nicht ganz so voller Pathos wirkt. Hier hat Tomoki Miyoshi, der auch schon an I am Setsuna mitgearbeitet hatte, ganze Arbeit geleistet. Der Soundtrack mit seinen verhaltenen Klavierklängen im Maintheme, aber auch in-game hat etwas ungemein selbstvergessenes, aber zugleich auch Hoffnungsvolles an sich und passt in dem Sinne zur Geschichte um’s Verlorengehen von Erinnerungen.
Fazit:
Die Review liest sich vermutlich so, als sei Lost Sphear nur bedingt empfehlenswert. Dem ist nicht so, unter’m Strich ist Lost Sphear nämlich ein charmantes Ding, dass den Zeitgeist der 16-Bit Japano-RPG-Ära ganz gut einfängt. Und gegenüber dem etwas zähen I am Setsuna hat Tokyo RPG Factory der Spielmechanik deutlich mehr Komplexität angedeihen lassen. Das Problem ist: Lost Sphear bleibt zu sehr Hommage mit zu wenig eigener Identität. Die Charaktere sind putzig, aber zu sehr in bestimmten klischeebeladenen Archetypen verhaftet – Die Story Grundlage um die verlorenen Erinnerungen klingt interessant, ist aber hier zu vorhersehbar und banal auserzählt. Die Spielmechaniken wirken wie Cherrypicking der coolsten Elemente aus dem Genre, Lost Sphear bleibt dabei aber zu sehr nur die Summe der einzelnen Teile. Man hätte die einzelnen Elemente, hier sei primär das Sammeln von Erinnerungen genannt, aber eben auch das Fischen, das Sammeln von Kochzutaten, die Vulcosuits, so gut in spannend oder melancholisch inszenierten Nebenquests verarbeiten können, die einen in diese verlorene Welt immersiv eintauchen lassen, stattdessen verbleibt es beim generischen Sammeln von ständig wiederkehrenden Collectibles. Lost Sphear ist ein schönes Spiel, das zu wenig aus seinem zweifelsohne vorhandenen Potential macht.
Erschwerend kommt hinzu, dass die PC Version ein relativ liebloser Port ist, mit nur banalsten Einstellungsmöglichkeiten und partiellen Performance-Problemen. Insofern ergibt sich daraus ein bestenfalls durchschnittliches Endergebnis, dass den Vollpreis von rund 50 EUR keinesfalls gerechtfertigt. Das ist schade, denn irgendwo habe ich Lost Sphear sehr gern gespielt und tatsächlich freut sich der Nostalgiker in mir auch klammheimlich auf den potentiellen nächsten Titel von Tokyo RPG Factory.
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