Die Werke von Yoshitoshi ABe sind sicherlich alles andere als leicht verdaubar. Bereits sein visionäres Debüt Serial Experiments Lain (Review hier) vermengte philosophische Fragen um die eigene Existenz mit einem realistischen Ausblick auf die zunehmende digitale Vernetzung. Und auch das u.a. von Haruki Murakamis Roman „Hardboiled-Wonderland und das Ende der Welt“ inspirierte Haibane Renmei nimmt allerlei religiöse, literarische und philosophische Versatzstücke und kreiert daraus ein faszinierendes, aber gleichermaßen hermeneutisch verklausuliertes Machwerk, dessen intertextuelle Zusammenhänge nicht immer klar ersichtlich sind. Im Gegensatz zum erzählerisch und visuell ungemein sperrigen Serial Experiments Lain ist Haibane Renmei aber dennoch deutlich zugänglicher und lässt sich durch das malerische Artdesign und den tiefmelancholischen, aber gleichermaßen lebensbejahenden Tonfall in größeren Dosen konsumieren als SEL. Dabei beruht der 13-Episoden starke Anime auf der Dōjinshi-Reihe von ABe, die sich unter dem Titel Old Home no Haibane-tachi wiederum in groben Zügen an seinem Artbook „Charcoal Feather Federation“ von 1998 anlehnt. Mit der Gesamtausgabe von Haibane Renmei brachte Nipponart den Anime bereits am 8. Dezember 2017 erstmalig auf Blu-Ray heraus. Deshalb an dieser Stelle das obligatorische Dankeschön für die Bereitstellung des Musterexemplars!
STORY // To recognize one’s own sin is to have no sin. It is the riddle of the ‘Circle of Sin’.“
Ein vermeintlich endloser Fall – Ein junges Mädchen, gehüllt in ein weißes Leinengewand, stürzt aus luftiger Höhe gen Erde, lediglich begleitet von einem einsamen Raben, der sich scheinbar schützend um sie zu legen sucht. Sie wirkt dabei bedächtig ruhig und frei von Angst, das Herz hingegen ist kalt. Ist das alles bloß ein Traum? Zartfühlige Klavierklänge ertönen – Diese Eingangssequenz markiert den Geburtsprozess der Protagonistin als sogenannte Haibane. Ihre Ankunft wird bereits erwartet – Schon bald wird sie aus dem schützenden Kokon befreit, der den neuen Lebensabschnitt in ihrer vorläufigen neuen Heimat „Old Home“ markiert. Haibane kommen unterschiedlichen Alters zur Welt, meist jedoch als Kinder- oder Jugendliche. Sie wird auf den Namen „Rakka“ getauft, das japanische Wort für „fallen“ – Jede Haibane wird nach dem letzten Traum benannt, den sie innerhalb des Kokons zuletzt geträumt hat. Die Haibane (jap. für „Aschflügel“) sind engelsähnliche Wesen mit aschgrauen Flügeln und Heiligenschein, die in Gemeinschaft ihrer Artgenossen in einem klosterähnlichen Verband zusammenleben. Es gibt zwei Rückzugsorte für die Haibane: So leben die einen in den schützenden Mauern des „Old Homes“, die andere Gemeinschaft hingegen in einer Fabrik am anderen Ende der Stadt. Die Welt für die Haibane ist äußerst limitiert – Die Stadt mitsamt ihrer ländlichen Umgebung wird von riesigen Mauern umgeben. Keinem Haibane ist es gestattet, diese Mauern zu überqueren oder zu sehen, was dahinterliegt. Das ist ein Privileg, das ausschließlich den Händlern, den sogenannten „Toga“ sowie den Raben vorbehalten ist. Das tägliche Leben wird von dem namensgebenden Haibane Renmei verwaltet (dem „Grauflügelbund“) – In der Stadt Glie koexistieren die Haibane friedlich mit den Menschen und gehen auch ehrenamtlich regulären Berufen nach, sind aber an bestimmte Gesetzmäßigkeiten ihrer Zunft gebunden: So dürfen sie zwar über Besitz verfügen, sind aber auf Schenkungen angewiesen – zudem darf ihr Besitz nur aus zweiter Hand stammen. Geld verdienen dürfen sie demnach nicht. Mit den „Toga“ hingegen darf kein Wort gewechselt werden, die Kommunikation findet ausschließlich über ein fest definierte Zeichensprache statt.
Der erste Teil etabliert Rakkas Beziehung zu ihren neuen Freunden, die sie in ihr neues Leben als Haibane einweisen. Die Story entfaltet sich relativ behäbig und ist bis zur ersten Hälfte eine typisch idyllische „Slice-of-Life“-Geschichte in einem märchenhaft-malerischen Setting. Die anderen Haibane, allen voran die resolute, kettenrauchende Reki, nehmen sich ihrer an und fungieren als enge Vertraute und Mentoren: Trotz des relativ beschränkten Mikrokosmos, in welchem sie leben, hat die kleine Gruppe an Haibanen ihre Träume und ihren Selbstverwirklichungsdrang nicht aufgegeben. Die gemeinsamen Tage sind aber trotz kleinerer Grabenkämpfe- und Sorgen und Nöte hier und da im Wesentlichen von Harmonie geprägt. Die Haibane sind eben keine Engel: Sie altern, sie können sich fortpflanzen und Kinder gebären und sind auch sonst mit vollständig menschlichen Attributen ausgestattet. Dennoch liegt irgendetwas in der Schwebe – Obwohl die erste Hälfte noch sehr lebensbejahend und idyllisch anmutet, merkt man als Zuschauer, dass irgendetwas nicht ganz richtig ist – dass das Paradies hier nur eine Illusion ist.
Und tatsächlich: Die existenzielle Frage nach der Herkunft und dem eigenen Schicksal wird schon recht bald gestellt. Der Erzähltenor wird zunehmend dunkler: Es werden Krankheit und Tod und schmerzlicher Verlust, und die fortbestehende Selbstungewissheit thematisiert. ABe-typisch verlangt der Anime dem Zuschauer einiges ab, denn auch hier ist nichts dem Zufall überlassen. Reich an Symbolik und intertextuellen Referenzen und wortkarg in seinen Erklärungsansätzen, ist auch Haibane Renmei ein sehr offen auslegbarer Anime. Woher kommen die Haibane? Was hat es mit der Stadt auf sich? Gehört alles innerhalb der Stadtmauern bereits zum Jenseits? Wenn ja, warum sind einheimische Menschen präsent? – Ein gängiger Erklärungsansatz ist etwa, dass der Ort eine Art Fegefeuer ist – Und die Haibane Suizidopfer repräsentieren, die gemäß ihrer Namen aus dem Leben geschieden sind (Rakka für „Fallen“ – In den Tod gefallen, Nemu für „Schlafen“ also den Suizid durch Schlafpillen etc.) – Sie müssen ihre Schuld abarbeiten, um Erlösung zu finden. Wenn die Zeit gekommen ist, entsteigen die Haibane in den Westwald und hinterlassen lediglich ihren Heiligenschein, der zunehmend verblasst. Einige Haibane hingegen bleiben an ihren Sünden gebunden – Ihnen ist kein Aufstieg vergönnt, sie verlieren ihre Aschflügel und ihren Heiligenschein und werden aus der Gemeinschaft der Menschen und Haibane verbannt. Glücklicherweise behält sich Haibane Renmei trotz der nachdenklichen und seltsam entrückten Atmosphäre seinen hoffnungsvollen Charakter bei und wirkt sehr viel menschlicher und behutsamer als das deutlich nihilistischere und von industrieller Kälte geprägte Serial Experiments Lain.
Gerade im Vergleich zu Serial Experiments Lain funktioniert Haibane Renmei auch narrativ besser. Zwar mag das erzählerische Tempo bisweilen sehr langsam erscheinen, dafür sind die Nebencharaktere sehr liebevoll portraitiert und der Alltag der Haibane holt auch unbedarfte Zuschauer ab, um dann in der zweiten Hälfte den Schlenker zu einem mysteriöseren und ernsthafteren Tenor zu ziehen. SEL hat sich im Vergleich dazu sehr in seinem Mindfuck-Labyrinth verloren. Insofern können wir bei Haibane Renmei, bei welchem der u.a. für Hellsing Ultimate verantwortliche Regisseur Tomokazu Tokoro federführend bei der Regie war, von einem deutlich runderen und fokussierteren, wenngleich auch konventionelleren Werk sprechen.
BILD UND ANIMATION
Haibane Renmei ist 2002 erstausgestrahlt worden, hat demnach mittlerweile 15 Jahre auf dem Buckel und dementsprechend sind auch hier die partiell recht holprigen Animationen, für die das RADIX Studio verantwortlich ist, nicht mehr zeitgemäß. Im Vergleich zu anderen Anime aus dieser Periode hat sich Haibane Renmei aber erstaunlich gut gehalten, was natürlich auch an der eher ruhigen Machart liegt. Die malerisch-idyllischen Farben kommen durch sehr gute Sättigungswerte ausreichend zum Tragen, nichts wirkt blass oder allzu verwaschen und wird durch satte Schwarzwerte konterkariert. Sehr gut finde ich außerdem, dass das in 1080p aufgelöste Bild im Gegensatz zu anderen Titeln aus der Zeit nicht im 4:3 Format mit Pillarbox vorliegt, sondern im 16:9 Widescreen Format und dabei dennoch nicht seltsam gestreckt oder gestaucht anmutet. Beim Kontrast- und der Schärfe muss auch die Blu-Ray Ausgabe Federn lassen und kann nicht ganz überzeugen, was aber bei einer derart alten Anime Serie irgendwo verschmerzbar ist.
Handwerklich empfinde ich den Anime als gut gelungen. Die Locations- und Außenumgebungen sind mit viel Liebe zum Detail gezeichnet, das vermeintliche Paradies wirkt in seiner rustikalen, ländlich geprägten Erscheinung gleichermaßen archaisch und dennoch willkommen heißend. Die Charakterdesigns, die entgegen meiner Erwartung von Akira Takata stammen, muten wie auch schon bei Serial Experiments Lain ein wenig zu generisch und karg an, um wirklich zu gefallen – dennoch erscheinen sie mir lebendiger und sympathischer als bei SEL. Auch der Stilmix zwischen traditioneller Animationstechnik und CGI-Elementen, bei Haibane Renmei sind das etwa die computergenerierten Windräder, ist typisch für ABe. Es wirkt nicht immer passend, mir gefällt aber dennoch die avantgardistischere Ästhetik, die sich daraus ergibt. Die Concept Artworks, auf denen Haibane Renmei beruht, lassen allerdings erahnen, wieviel künstlerisches Potential durch die digitale Tricktechnik verschwendet worden ist. Denn während ABe bei den Concept Artworks zu traditionell-analogen Illustrationstechniken griff und der Geschichte im zarten Aquarelllook den angemessen verträumten Look bescherte, kann ich mir vorstellen, dass dieser Look in animierter Form die Atmosphäre nochmal deutlich steigern würde. Das aber ist reines Wunschdenken und Meckern auf sehr hohem Niveau.
TON UND SYNCHRONISATION
Der Score mit seinen orchestralen Streichereinlagen, der aus der Feder von Kō Ōtani stammt, ist schlicht wunderschön. Obwohl recht opulent arrangiert, unterstützt die musikalische Untermalung den luftig-fragilen Tonfall der Serie perfekt. Das Ending „Blue Flow“ von Heart of Air passt dann auch wunderbar zur sakralen Mystik, die der Titel ausstrahlt. Die deutschen Stimmen finde ich durchweg gut gewählt, die Intonation fällt natürlich aus, die Abmischung ausreichend dynamisch und alles ist passgenau lippensynchron. Der Ton liegt im PCM 2.0-Format vor und wird meist über die Front wiedergegeben. Einzelne auditive Elemente werden ab und an auf andere Boxen verteilt, im Wesentlichen wird der Raumklang aber nur marginal ausgenutzt. Die Abmischung hingegen ist solide. Negativ fällt auf, dass die deutsche Untertitelung nicht alles untertitelt. Japanische Hinweisschilder- oder Weggabelungen etwa werden schlicht nicht übersetzt. An der Lokalisierung sind mir hingegen keine nennenswerten Fehler aufgefallen.
PHYSISCHE UMSETZUNG
Zusammen mit Tenjo Tenge zählt für mich die Aufmachung von Haibane Renmei zu den schöneren im Nipponart-Katalog von 2017. Die Gesamtausgabe kommt in einem ungemein hübsch gestalteten Pappschuber, dessen Front mit Rakka geschmückt ist. Der Innenteil ist ebenfalls mit drei wunderschön gestalteten Artworks gestaltet. Der obligatorische A5-Sticker darf bei Nipponart-Releases natürlich nicht fehlen – Statt einem Poster liegt bei Haibane Renmei aber ein Booklet bei, das Informationen zu den einzelnen Charakteren enthält, Concept Artworks zur Welt und zu den Designs in Haibane Renmei. Insgesamt sehr schicke und liebevolle Umsetzung.
FAZIT
Haibane Renmei ist ein gewohnt enigmatisches Machwerk aus der Feder von Yoshitoshi ABe – Die Geschichte um die engelsähnlichen Haibane, die in der kerkerhaften Idylle ihrer Heimat nach Erlösung streben, ist abermals ein Potpourri aus philosophischen und christlich-religiösen Versatzstücken, das dem Zuschauer einiges an Hirnschmalz abfordert. Zugleich ist Haibane Renmei aber auch zweifellos ABe’s zugänglichstes Werk, welches sich in seiner tiefmelancholischen Grundstimmung immer einen hoffnungsvollen Funken bewahrt. Wo Serial Experiments Lain abseits seines Technikskeptizismus erzählerisch an der Oberfläche blieb, sind die Charakterzeichnungen in Haibane deutlich feiner. Die traumartige Ästhetik der Serie fasziniert und bietet mit ihrem „Slice of Life“-Einstieg eine gute Lernkurve für den zunehmend dunkleren Tenor. Kritisieren könnte man das arg langsame Pacing, welches einigen ZuschauerInnen schlicht zu langweilig sein dürfte, sowie das stellenweise arg generische Charakterdesign. Dennoch ist Haibane Renmei atmosphärische, künstlerisch über alle Maßen erhabene Kost für Herz und Hirn.
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ALLGEMEINE DATEN
Publisher: Nipponart
Genre: Mystery, Psychological, Slice of Life, Fantasy
Laufzeit: ca. 325 Minuten
FSK: 12
Bild: 1080p
Ton/Sprache: Deutsch PCM 2.0, Japanisch PCM 2.0
Untertitel: Deutsch
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Handlung:
Rakka ist ein Mädchen mit grauen Flügeln und Heiligenschein, eine Haibane. Als sie aus ihrem Kokon schlüpft, ergeht es ihr wie jeder anderen ihrer Art und sie verliert jegliche Erinnerung an ihr früheres Leben. Die Stadt, in der sie erwacht, ist von einer gewaltigen Mauer umgeben, die man nicht berühren kann. Nur den Krähen ist es möglich, diese Mauer zu überwinden. Von den anderen Haibane wird Rakka freundlich aufgenommen und auch die Menschen in der Stadt sind nett zu ihr. Doch ist diese neue Welt wirklich das Paradies, welches sie zu sein scheint?
Quellen: nipponart.de, Amazon.de,
Copyright: © Yoshitoshi Abe – Aureale Secret Factory
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